Gerhard Richter
Gehörgänge
Musik, so sagte Gerhard Richter einmal, sei für ihn wichtig. Auch
bekomme er immer wieder Post von Musikern, die seine Arbeit schätzen.
Er freue sich darüber: irgend etwas Musikalisches müssten seine Bilder
also schon haben.
Wohl wahr: ich musste dabei gleich an Texte denken (von James Joyce zum
Beispiel), die so musikalisch sind, daß ich mir als Komponist nicht
anmaßen würde (selbst, wenn dies auf meinem Wege läge), sie “vertonen”
zu wollen.
Kann man Bilder “vertonen”? Sind Richters Bilder so “narrativ”, daß ich
ihnen Klänge mit auf die Leinwand zu schreiben wagte? Oder sind sie
selbst Musik genug?
Ich liebe die Bilder von Richter, und so habe ich mir als Gedankenspiel
einmal vorgestellt, in einem seiner abstrakten Bilder herumzuwandern.
Und was für eine Wanderung das war! Kein Spaziergang... ein Abenteuer
für Stunden, Nachwirkungen garantiert. Ich durchquerte ein Labyrinth
von Bächen, Flüssen, sich gegenseitig durchkreuzenden Bahnen und
Kanälen, durchstreifte ganze Wälder von großer Schönheit -
und bei jeder Richtungsänderung sah alles wieder neu und anders aus (=
klang alles neu und anders). Auch an einen großen Farbsee kam ich
einmal, aber als ich mich wieder umwandte, erschien mir der Grund, auf
dem ich die ganze Zeit gewandert war, wie ein Meer. Ein chaotisches und
gleichzeitig von einer hohen Ordnung geprägtes Meer von Farben,
Schlieren, Rinnsalen, Klängen. Der Grad der gegenseitigen Durchdringung
der verschiedenen Schichten war dermaßen hoch, daß ich aus dem Bild
staunend heraustrat und mich fragte, wie der Maler diese hochkomplexe
Polyphonie überhaupt umsetzen konnte mit nur zwei Armen.
Und verschwand in einem anderen seiner Bilder. War dies eine
Photographie? Oder ein gemaltes Bild? Es sperrte sich gegen meinen
Wanderversuch, hier gab es keine Offenheit der Entscheidung für oder
gegen eine Wanderrichtung. Nur die meisterliche Perfektion eines
Abbildes, ein (im Doppelsinn des Wortes) perfekter Kontrapunkt zu den
abstrakten Bildern. Ich trat aus dem Bild wieder heraus, schaute noch
einmal... und hörte.
Ich hörte diesen Kontrapunkt, diese beiden völlig verschiedenen Welten,
die so taten, als wollten sie nichts miteinander zu tun haben. Und
doch: gerade dieses Aussparen dessen, was das andere ist verband sie
miteinander in einer wundersamen Balance. Ich hörte sie wie zwei
Stimmen...
Und nun sitze ich vor Bildern, die... nein: ich taste mich hörend
bereits in faszinierende Bildwelten hinein, die beide Stimmen
zusammenführen: Abbild (Photographie) und das Aufbrechen des Abbildes
in verwischte Farbebenen, so als sei eine andere, dynamische, eine
malerische Realität in eine statische Ebene des photographischen
Abbildes eingebrochen. Oder: so als würde das Abbild plötzlich vor
meinen Augen weggezogen. Wie zwei sich kontrastierende musikalische
Ebenen, die in verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufen: die eine
statisch ruhig, die andere in einem rasenden Tempo, das Einzelheiten zu
einer Textur, einem Flirren verwischt.
3.12.1999 heißt ein solches
Bild, das einen herbstlichen Wald oder Park mit Parkbank imaginiert
(war das Photo bereits so herbstlich oder sind es nur die Farben der
Übermalung?). Oder auch der winterliche Wald 21.12.1999
- die beiden Bildebenen erinnern mich an russische Ikonen und die
Okladen, die das gemalte Bild teilweise bedecken. Die “Oklade” dieses
Bildes hier scheint wie ein Vordergrund... ich höre eine laut rasende
Musik im Vordergrund und eine sanfte, ruhende Musik, die dahinter in
den Pausen hörbar wird.
Sagte ich Vordergrund...? Ich trete zwischen die beiden Musiken
- und höre einen Raum, rund um mich herum sind Klänge, Farben,
Bewegung von Klängen und Farben, verschiedene Geschwindigkeiten dieser
Bewegung. Es gibt hier keinen Vorder-, keinen Hintergrund. Es gibt eine
Raum-Polyphonie, eine Polyphonie verschiedener Formen...
Diese Bilder lassen mich so schnell nicht wieder los.
Robert HP Platz (11/2002)
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