GRENZGÄNGE STEINE
Grenzgänge (UA Köln 1993) bildet mit weiteren, noch nicht entstandenen Teilen und mit SCHREYAHN
(Zeitinstallation für Violoncello und Instrumentalgruppen, UA Metz
1990) ein größeres Werk, das nach und nach als work in progress
entsteht. Die Titel gehen zurück auf das wendländische Rundlingsdorf
Schreyahn, in dessen Künstlerhof ich 1989/90 einige Zeit lebte und
dessen konkrete akustische Bedingungen (= ein Klavier von links, ein
Klavier von rechts, Klänge von draußen, von oben...) mich zunächst in
die Verzweiflung, dann in die Konzeption von SCHREYAHN trieben...
Der Ort Schreyahn lag zur Zeit meines Aufenthaltes ganz nahe an der
Grenze zur DDR; eine Grenze, die mich in Gedanken- wie auf
Spaziergängen magisch anzog und gleichzeitig abstieß: ein eigenartiges
Faszinosum, das seine Krönung im Aufbrechen, Vernarben,Verschwinden
fand und im tastenden Erkunden dessen, was auf der anderen Seite war.
Heute liegt Schreyahn nicht mehr am Rande im Nirgendwo, sondern im
Zentrum eines Landes, dessen Mitte, da vorher Rand, nun leer geworden
ist.
Damit sind einige Grundgedanken der Komposition bereits
umrissen: Grenzgänge schließen das Ertasten des Fern- und trotzdem
Naheliegenden ebenso ein wie ein Umkreisen, ein Denken in Zyklen.
Und so wirken das zuerst entstandene SCHREYAHN und Grenzgänge STEINE
wie Teile einer zyklischen Weiterentwicklung, wie das immer engere
Umkreisen eines Klangs, einer Farbe (und eines Instrumentes =
Violoncello), eines sich immer weiter entziehenden Zentrums...
Das Mitte-Werden des Randes (oder das Rand-Werden der Mitte) erinnert
an die berühmten und inzwischen fast modisch gewordenen Apfelmännchen
der fraktalen Geometrie, die, je weiter man in sie hineinschaut, desto
mehr selbstähnliche Detailgebilde entwickeln, sodaß ein Gang immer an
der Grenze entlang schließlich doch nicht zum Ausgangspunkt
zurückführt, sondern immer tiefer hinein, immer weiter zu einem nie
erreichbaren fernen Zielpunkt, der auch seinerseits nur als Rand, nicht
Mitte beschreibbar sein wird. Bekanntlich entstehen solche Formationen
durch fortwährende Rückkoppelung eines schöpferischen (oder
rechnerischen, was so unschöpferisch ja auch nicht ist) Prozesses mit
sich selbst. Musikalisch gesprochen: jedes Detail kann zum
Ausgangspunkt für immer wieder neue Weiterentwicklungen werden. Formal
ist damit eine Großkomposition als Entwicklungskette von
Einzelpartituren gemeint, die die nächsten Jahre meiner Arbeit
ausfüllen wird: ein Immer-Weiter-Spinnen, ein Alles-In-Sich-Aufnehmen,
letztlich eine Aufhebung aller tradierter musikalischer Genres in einem
gemeinsamen Strom, von dem jedoch nur Teile auf einmal hörbargemacht
werden können, der aber trotzdem weiterfließt, sich aufteilt, wieder
zusammenfindet.
Es gehört zum Wesen dieser Musik
- wie in fast allen meinen Werken der letzten Jahre -
daß Aufteilungen und Verzweigungen des musikalischen Stromes als mehr
oder weniger selbständige Sätze oder gar Einzelstücke realisiert werden.
In Grenzgänge, der Initialzündung der geplanten Großkomposition (oder,
um im Bilde zu bleiben: dem Ursprung, der Quelle des Stromes) zweigt
ein Stück für zwei Klaviere ab: STEINE,
geschrieben für Kristi Becker und Pi Hsien Chen. Im Titel dieses kurzen
(auch einzeln aufführbaren) Stückes finden mehrere Assoziationsketten
zusammen: Zum Einen ist Steine jene winzige Ortschaft, an deren Ende
der Weg abzweigt in die Felder, nach Schreyahn. Gerade entschlossen,
die topographische (wie musikalische) Nachbarschaft titelmäßig zu
erfassen, fanden wir zuhause jenen Stein wieder, der uns in Schreyahn
zum Offenhalten der Tür gedient hatte. Am selben Abend sah ich in einem
Buch über die japanische Teezeremonie die Abbildung eines Steins,
der - kreuzförmig verschnürt - im Teegarten den
Weg weist. Er sah ein wenig aus wie mein Stein aus Schreyahn. Und der
liegt nun, liebevoll verschnürt, in meinem Zimmer. Der Weg, den er
weist, führt hinaus in den Park, fort, immer weiter...
Viel
Zeit in Schreyahn habe ich im Gespräch mit dem Lyriker Heinz Kattner
verbracht. Sein Gedicht habe ich in meine Komposition aufgenommen.
Robert HP Platz
ABEND HINTER SCHREYAHN
(für Robert HP Platz)
Von der Landschaft haben wir nur
noch eine Ansicht gemeinsam
verlassen wir das Haus mitten im
Gespräch während Nebelstreifen
den Wald vom Boden trennen die
Bäume schweben wie eine Erscheinung
die Leiber der Pferde auch unter der
großen Kastanie rostet die Erde
wo wir stehen willst du den Geruch
benennen auf dem Asphaltweg
Spuren vom Acker im Reifenmuster
zeigst du mir die ersten Sterne
fliegt ein Schatten vorbei und ruft
ich erzähle was man von Käuzen sagt
und du sagst diesen einfachen Laut
wieder und wieder verlangsamt
hörst du dann die unglaublichen
Abstufungen in einem einzigen Schrei
Heinz Kattner, Januar 1990
GRENZGÄNGE STEINE (1989/92-93)für Sopran, zwei Klaviere und Orchester
Text: Heinz Kattner (“Abend hinter Schreyahn”)
Besetzung: Soli: Sopran, 2 Klaviere; Orchester: 3 (Afl., Bfl.). 2. Eh. 2 (Bkl.). TSax. 2. Kfg. / 4. 3. 3. 2. / 12. 12. 10. 8. 6.
Uraufführung: Köln, 2.12.1993
Dauer: 27'
Verlag: Ricordi München – Sy. 3196 Part.* / Sti.
Die Komposition
STEINE für zwei Klaviere kann auch separat aufgeführt werden.
www.rhpp.de
info@rhpp.de
Copyright © 2025 ― Robert HP Platz