Robert HP Platz
Hiller, Egbert: Übermalungen.
Sendemanuskript SWR Stuttgart 2002


Copyright: Egbert Hiller, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors. Alle Rechte vorbehalten.


SWR
Sendereihe: Neue Musik kommentiert

„up down strange charm“ – das Phänomen der Übermalung bei Robert HP Platz
von Egbert Hiller

Sprecher: Egbert Hiller
O-Töne – Robert HP Platz
Redaktion: Hans-Peter Jahn



Musik 1:
Robert HP Platz, strange charm, Klangforum Wien, Emilio Pomárico, Dirigent, Dokumentation – Wittener Tage für neue Kammermusik 1999
Track 3, 03:00-04:45
(ab 04:00-04:30 unter dem Text, dann bis 04:45 alleine).

Sprecher :
 Ein Ausschnitt aus „strange charm“ von Robert HP Platz. Seltsamer Charme oder fremder Zauber? Oder: der Charme des Fremden, der Zauber des Fremden? Von diesen möglichen Bedeutungen des Titels „strange charm“ lässt sich mehr als nur eine Ahnung assoziativ in das Stück hineinlesen. Strange und Charm sind aber auch Begriffe aus der Teilchenphysik; sie bezeichnen Elementarbausteine der Materie, sogenannte Quarks. Und auf diese Bedeutung kommt es dem Komponisten vor allem an.
(Musik 1 aufblenden, dann langsam ausblenden)
Zentrales Moment von „strange charm“ ist, dass es sich eigentlich um zwei Stücke handelt: nämlich „strange“ und „charm“. Diese zwei Stücke sind wiederum Bestandteile eines vierteiligen Zyklus mit dem Titel „up down strange charm“. Die Kompositionstechnik, die Robert HP Platz in diesem Zyklus anwandte, ist mit dem Verfahren der Übermalung in der Bildenden Kunst verwandt.

O-Ton Robert HP Platz (1):
Also der Terminus „Übermalungen“ ist ein bisschen schwierig in dem Zusammenhang. Ich denke natürlich sofort an einen Maler wie Arnulf Rainer dabei, der praktisch sein Lebenswerk als Übermalung gestaltet hat und dabei immer so verfahren ist, dass er ein Foto, meistens ein präexistentes Foto eines anderen Fotografen, also nicht Fotos, die er selbst geknipst hat, oder auch Reproduktionen von Werken anderer Maler übermalt hat mit etwas anderem und sozusagen eine Polyphonie schafft. Die Übermalung in dem Sinne in meiner Musik ist insofern anders, dass sie niemals als Folie das Werk eines anderen benutzt. Es gibt keine Zitate, es gibt auch keine eindeutige Hierarchie, dass jetzt eines der Hintergrund und ein anderes der Vordergrund wäre. Insofern stimmt der Terminus „Übermalung“ nicht ganz. Gleichwohl natürlich suggeriert er schon diese Mehrschichtigkeit und tatsächlich auch ein bisschen den Weg, den ich in manchen Stücken im kompositorischen Prozess gehe, nämlich in der Form, dass ich zunächst einmal ein Stück komponiere und das nächste fast im Sinne eines klassischen Kontrapunkts darüber. (01:35)

Sprecher:
Freilich eine radikale Form des Kontrapunkts, der eine komplexe Auffassung von Formpolyphonie zu Grunde liegt.

O-Ton (2):
Polyphonie gab es in der europäischen Musikgeschichte seit Hunderten von Jahren, in verschiedenen Stufen. Punctus contra punctum war das Allererste, ein Kontrapunkt sozusagen, Stimmenpolyphonie, eine Polyphonie von verschiedenen Flächen, von Stimmgeweben, von harmonischen Feldern, ich springe jetzt sehr schnell schon in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinüber, und Mikropolyphonie, ein Stichwort bei Ligeti. Es kommt immer darauf an, was da polyphon miteinander verwoben wird. Und bei mir war es so, dass ich zunehmend zu der Erkenntnis gelangte, das war am Anfang der 80er Jahre, dass ich nicht nur einzelne Stimmen oder einzelne Schichten polyphon miteinander verweben wollte, sondern wirkliche musikalische Abläufe. Daraus folgte in allerletzter Konsequenz sozusagen, eine Partitur, die nicht wie beim klassischen Kontrapunkt aus, sagen wir, vier verschiedenen Stimmen besteht, sondern aus vier Partituren, aus vier verschiedenen Stücken, die alle gleichberechtigt sind, das heißt, dass man sie auch separat spielen kann, die aber von Anfang an bei der Konzeption im Hinblick auf diesen Kontrapunkt, auf dieses polyphone Gewebe entworfen worden sind. (01:45).

Sprecher:
Ein solches Stück ist „up down strange charm“, komponiert von 1996-98. Ebenso wie Strange und Charm entnahm Platz die Begriffe Up und Down der Teilchenphysik; Up und Down sollen aber gleichzeitig auch in der Bedeutung aufwärts und abwärts verstanden werden. Mit „up“ verbindet der Komponist, wie er in der Partitur anmerkt, ein Geben von Entwicklungsmöglichkeiten, ein Wachsenlassen, Steigerung und Aufwärtsbewegung. Und „down“ meint entsprechend die Tendenz zur Zurücknahme: hinab, abnehmen, leiser und langsamer werden. Die Spannungskurven von „up“ und „down“ suggerieren also einen entgegengesetzten Verlauf. Hier ein Ausschnitt aus dem Klavierstück „up“.

Musik 2:
Robert HP Platz, up, Kristi Becker, Klavier, Musik im Schömer Haus, Wien Modern, Konzertmitschnitt vom 14. 11.1998.
Track 1, 00:00-01:35.

Sprecher:
Die kompositorischen Elemente von „up“ sind dissonante Akkordfolgen, zur Mehrstimmigkeit sich auffaltende Linien und bedächtige Skalenläufe. Das Material ist betont einfach gehalten, birgt aber im Abwechseln von akkordischen und linearen Passagen Konfliktpotenzial.
In „down“, einem Oktett für drei Bläser und fünf Streicher, ist die Entwicklungsrichtung dagegen einheitlich. Es setzt mit Fanalwirkung in dreifachem Forte ein und dünnt dann ganz allmählich aus, wird immer fahler und karger. 

Musik 3:
Robert HP Platz, down, Ensemble „die reihe“, Robert HP Platz, Dirigent, Musik im Schömer Haus, Wien Modern, Konzertmitschnitt vom 14. 11.1998, Track 3, 00:00-02:45.

Sprecher:
In der Simultanfassung „up down“ bleibt „down“ im Prinzip unverändert, und das kürzere „up“ wird unter Einschluss von Pausen wie eine zweite Tonspur dazusynchronisiert. Zunächst dominiert das Oktett als tiefe und dunkle Farbschicht. Auf Grund der tendenziellen Zurücknahme in „down“ schiebt sich das hell aufblitzende Klavierkolorit im Verlauf des Stücks aber mehr und mehr in den Vordergrund. Die Perspektiven der Wahrnehmung im musikalischen Raum verändern sich.

Musik 4:
Robert HP Platz, up down, Ensemble „die reihe“, Kristi Becker, Klavier, Robert HP Platz, Dirigent, Musik im Schömer Haus, Wien Modern, Konzertmitschnitt vom 14.11.1998, Track 5, 02:35-05:10.

Sprecher:
Die Stücke „up“ und „down“ repräsentieren im Zyklus „up down strange charm“ dynamische Entwicklungsprozesse; „strange“ und „charm“ stehen dagegen für Introversion und Kontemplation. Und dieser Gegensatz ist durchaus auch im Sinne einer Begegnung von westlicher und östlicher Welt zu verstehen. Einen dezenten Hinweis darauf gibt der Titel, denn Up und Down sind die Quarks, aus denen gewöhnliche Materie aufgebaut ist, während Strange und Charm nur in exotischen Elementarteilchen nachweisbar sind. In dem Duo „charm“ lässt allein schon die Verwendung der japanischen Mundorgel Sho Assoziationen an fernöstliche Musikkulturen zu, denen sich der Komponist durch mehrere Japan-Aufenthalte verbunden fühlt. Zum flirrenden Klang der Sho tritt eine unorthodoxe Spielweise der Violine mit zahlreichen Trillern und geräuschhaften Elementen. Fremdheit paart sich in „charm“ mit äußerster Sensibilität im Ertasten tiefer, verborgener Schichten eines seelischen Innenraums.

Musik 5:
Robert HP Platz, charm, vom Komponisten zur Verfügung gestellte Aufnahme, Track 11-13.


Sprecher:
Der Charakter von „strange“ wird zwar an markanten Punkten, so auch zu Beginn, von aufreizenden Melodiebögen der Klarinette bestimmt, doch versinken diese alsbald in lyrischer Verinnerlichung – und werden von einem perkussiven Urgrund aus Harfen- und Schlagzeugklängen eingeholt.

Musik 6:
Robert HP Platz, strange charm, Klangforum Wien, Emilio Pomárico, Dirigent, Dokumentation – Wittener Tage für neue Kammermusik 1999, Track 3, 00:00-03:05 (ab 01:27 unter die folgenden Worte legen, ab ca. 01:48 bis 02:50 Musik alleine, ab 02:51 wieder unter die Worte – ab „Parallelen“ – legen und langsam ausblenden).

Sprecher:
„Strange charm“ beginnt mit dem Anfang von „strange“. An einer filigranen Solostelle der Harfe tritt dann „charm“ hinzu. Und zwar zunächst rhythmisch ganz unkoordiniert. Wie ein neuer Gast, der ein ihm unbekanntes Terrain betritt und sich erst orientieren muss, um dann seinen Platz im Gefüge einzunehmen.
(Musik 6)
Parallelen drängen sich auch zu einer imaginären Bühnensituation auf – eine akustische Begegnung von zwei Charakteren, der der Hörer durchaus im Sinne eines Hörtheaters beiwohnt. Wobei der Komponist die Differenzierung der Charaktere erleichtert.

O-Ton (3):
Wenn ich, sagen wir, drei Orchester nebeneinander stelle, die annähernd gleich besetzt sind, höre ich keine Polyphonie. Wenn ich sehr disparate Besetzungen im Raum aufteile, ist für jeden Hörer selbst beim allerersten Hören schon klar, dass er verschiedene Stücke hört. (00:26)

Sprecher:
Hör-experimentelle und psychoakustische Erwägungen, Fragen der Wahrnehmung und des Rezeptionsverhaltens spielen für Platz eine wichtige Rolle. Eng damit verbunden sind spezielle kompositorische Fragen, die die gezielte Kombination von zwei und mehr Stücken aufwirft.

O-Ton (4):
Bei „up down strange charm“ bin ich so verfahren, dass der ganze Zyklus als solcher fertig geplant war, mit harmonischen Feldern, mit all den, ja, ein Fachmann würde sagen, musikalischen Parametern, die dazugehören, die mir auch gewährleisten, dass das nicht aus dem Ruder läuft und beliebig wird, das muss hörbar, für den Hörer wirklich nachvollziehbar zusammengehören und passen. Das gehört für mich zu dem Begriff der Schönheit dazu, es muss einfach schön klingen. Ich bin dann ganz in der Reihenfolge der Titel chronologisch vorgegangen. Das heißt, ich habe zuerst das Klavierstück komponiert. Und nachdem dieses Klavierstück, „up“, fertig in Partitur notiert war, habe ich als nächstes das Oktett „down“ im besten Sinne als Kontrapunkt dagegen komponiert. Und mit jeder Schicht, nennen wir es mal, mit jedem Stück, das dazukam, wurde das auf der einen Seite schwieriger, weil ich wollte ja nicht, dass jetzt irgendeine Suppe entsteht, die kein Hörer mehr durchdringen kann, nicht mehr auslöffeln kann, sondern ich wollte ja, dass man’s durchhören kann. Und gleichzeitig mit diesem Schwieriger-Werden, wird es auch immer aufregender. Was beim Klavierstück zum Beispiel, wenn man’s alleine spielt, eine einfache Fermate ist, kann im Gesamtzyklus eine ausnotierte Pause von 20, 30 Takten sein, in denen andere Stücke hervorkommen, um ihr Maximum sozusagen zu haben und wenn sie zurücktreten, kommt das Klavier wieder dazu. Genau das Gleiche gilt für die anderen Stücke. Es ist also nicht so, diesem Missverständnis sollte ich vielleicht entgegentreten, dass hier einfach vier Stücke komponiert wurden, die man dann, wenn sie fertig sind, aufeinander loslässt, und die sozusagen auf das Signal eines Pistolenschusses anfangen und dann laufen, bis sie vorbei sind. Sie verhalten sich ganz demokratisch zueinander, ganz kollegial, der Eine gibt dem Anderen Vortritt, hält sich ein bisschen zurück, darf dann selbst wieder und so, nur so entsteht ein polyphones Geflecht, das andere wäre Heterophonie. (02:31)

Musik 7:
Robert HP Platz, up down strange charm, unveröffentlichter Mitschnitt des WDR von den Wittener Tagen für neue Kammermusik 1999, Ausschnitt 02:10.

Sprecher:
Höchst lebendige Wesen begegnen sich da im musikalischen Raum. Ja, ein Bezug zum Leben selbst tritt in dieser Musik ganz offen, ganz plastisch zutage.

O-Ton (5):
Wir leben in einer Polyphonie, wir leben in einer polyphonen Gesellschaft. Gerade dadurch, dass die verschiedenen Stücke, die gleichzeitig gespielt werden, so verschieden sind, dadurch ist das auch ein Hinweis darauf, dass gerade durch diese Verschiedenheit dieses Miteinander richtig funktioniert. Wenn die alle gleich sind, gleichgeschaltet werden, das ist natürlich wieder eine ganz andere Implikation, dann kann das durchaus schief gehen. (00:28)

Sprecher:
 In der Musik von Platz funktioniert das Miteinander. Als Abbild des Zustands der Welt ist dieses Miteinander zwar allenfalls Zukunftsmusik, doch in der Vorstellung des Komponisten verdichtet es sich zum spirituellen Ausdruck, zu einem Angebundensein an den Strom des Lebens mit all seiner Vielfalt und Harmonie, seinen Brüchen und Gegensätzen. Mit dem Aufgreifen der Elementarteilchen aus der Physik deutet Platz aber auch auf naturwissenschaftliche Phänomene und organische Wachstumsprozesse, die er nachempfinden will, ohne sie freilich nachzuahmen. Er nimmt sich der Quarks an und verlebendigt, ja, romantisiert sie, indem er ihre abstrakte Begrifflichkeit in konkrete Klangvorstellungen verwandelt. Doch die Kompositionen sind selbst wiederum Abstraktionen, deren innere Strukturzusammenhänge sinnbildhaft auf die Materie und deren Strukturen zurückverweisen. Strenge Struktur und sinnlicher Ausdruck prägen „up down strange charm“ gleichermaßen.

O-Ton (6):
Dichotomie zwischen Kopf und Bauch ist natürlich ein roter Faden durch mein Werk. Ich sitze gewissermaßen auch zwischen den Stühlen damit. Für den einen ist meine Musik mitunter zu komplex, zu modern, zu, ich weiß nicht was, und für die Liebhaber der neuen Komplexität und der Neuen Musik ist meine Musik mitunter viel zu romantisch. Das muss so sein. Es ist eben so. Ich bin indes, ich muss es nochmal sagen, Komponist und in diesem Zusammenhang kein Wissenschaftler. Das heißt, ich habe nicht im wissenschaftlichen Sinne bestimmte physikalische Phänomene mehr oder weniger akkurat versucht in die Musik zu übersetzen. Darum ging es mir in keiner Weise. Das sind eher assoziative Verknüpfungen. Bei „up down strange charm“ ist es so, das mich fasziniert hat der Gedanke, dass das Teilchen sind, die je nach ihrem Anregungszustand entweder separat oder im Verbund sozusagen auftreten können. Und das ist ganz genau die Aufführungsmöglichkeit meiner Stücke. (01:11)

Musik 8:
Robert HP Platz, Robert HP Platz, up down, Ensemble „die reihe“, Kristi Becker, Klavier, Robert HP Platz, Dirigent, Musik im Schömer Haus, Wien Modern, Konzertmitschnitt vom 14.11.1998
Track 5, 08:27-10:25.

Sprecher:
Wesentlicher Faktor im Schaffen des 1951 in Baden-Baden geborenen Robert HP Platz ist eine Neubewertung der Zeitdimension in der Musik im Sinne zugespitzter Simultaneität. Platz komponiert zwar auch hintereinander, aber vor allem eben übereinander. Mit einer als postmodern apostrophierten Zitat-, Collage- und Montagetechnik hat seine strikte Erweiterung des Polyphonie-Gedankens jedoch kaum etwas zutun. Angeregt ist sein Verfahren kontrapunktischer Übermalungen zwar von der Bildenden Kunst, doch Platz ist kein verhinderter Maler, sondern Musiker durch und durch. 1970 nahm er sein Studium in den Fächern Musiktheorie, Klavier, Dirigieren und Komposition bei Wolfgang Fortner in Freiburg auf. 1973 wechselte er nach Köln zu Karlheinz Stockhausen. Es folgten das Dirigierexamen in Freiburg und Aufenthalte in Paris und den USA. 1980 siedelte Platz ganz nach Köln über. Ein Jahr später gründete er das kürzlich aufgelöste Ensemble Köln, mit dem er als maßgeblicher Dirigent und künstlerischer Leiter annähernd 300 Uraufführungen realisierte, darunter auch eigene Werke. Außerdem ist Platz Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen und Leiter einer eigenen Kompositionsklasse an der Musikhochschule im holländischen Maastricht.
Ansätze des Simultaneitätsgedankens lassen sich bis in die Anfänge seines Komponierens zurückverfolgen, bis zu den ersten Werken, die Installationen waren.
(Musik 9 einblenden)
Ein frühes markantes Beispiel, wo verschiedene, aber strukturell verwandte Stücke gleichzeitig bzw. überlappend erklingen, ist die Komposition „Maro & Stille“ von 1980/81. Sopran und Klavier, dann eine Solovioline und schließlich kleines Ensemble und Chor bilden drei Schichten, wobei im Abschnitt der Solovioline die Struktur des gesamten Werks in komprimierter Form enthalten ist. Den musikalischen Schichten entsprechen die drei Ebenen des Textes: „Das stille Verschwinden der Angestellten“ von Thomas Brasch.

Musik 9:
Robert HP Platz, Maro & Stille, Christine Whittlesey, Sopran, Kristi Becker, Klavier, Irvine Arditti, Violine, Elisabeth Künstler, Alt, Hanna Auerbacher, Alt, Schola Cantorum Stuttgart, Clytus Gottwald, Leitung, Ensemble Köln, Robert HP Platz, Leitung, Wergo 286 521-2, Track 9, 00:00-03:00 (ab 02:55 langsam ausblenden)

Sprecher:
In „From fear of thunder, dreams“, zu deutsch „Aus Angst vor Donner, träumen“, für Kammerensemble und Tonband von 1987/88 ist die kontinuierliche Folge der einzelnen Sätze aufgehoben. Bis zu drei der sechs Sätze erklingen gleichzeitig. Der strukturelle Ansatz hat sein Pendant in der emotionalen Dichte des Stücks – als sei die Intensität schlicht zu groß, um im linearen Zeitverlauf adäquat zum Ausdruck zu kommen. In der Angst vor dem Gewitter überschlagen sich die Gedanken, Gefühle und Träume.

Musik 10:
Robert HP Platz, From fear of thunder, dreams..., Ensemble Köln, Robert HP Platz, Dirigent, Wergo 286 521-2, Track 14 (Musik alleine), Track 15, 00:00-00:18 unter die folgenden Worte legen (ab „Und das nimmt...“ langsam ausblenden)

Sprecher:
Einerseits untergräbt Platz die Identität der einzelnen Sätze durch die partielle Übermalung mit anderen Sätzen; andererseits betont er deren Autonomie, da sie eben auch separat, also als eigenständige Stücke aufgeführt werden können. Und das nimmt schon die Doppelfunktion der Stücke in „up down strange charm“ vorweg, die sowohl selbstständig sind als auch im polyphonen Geflecht aufgehen. Aber auch „up down strange charm“ markiert keinen Endpunkt in Platz’ komplexem Übermalungsverfahren.

O-Ton (7):
Sicher bietet diese Idee des Fortschreitens von Stufe zu Stufe in der Polyphonie noch Möglichkeiten einer Steigerung. Es gibt Ansätze in meinem Werk zu einer Polyphonie nicht nur von zwei Stücken im selben Raum, sondern quasi von zwei Programmen, die gleichzeitig in verschiedenen Räumen ablaufen, mit geöffneten Türen, so dass die Klänge herein- und herauswehen, es ist genau exakt übereinander komponiert. Das ließe sich theoretisch weiter denken, auf einer höheren Ebene, dahingehend, dass soziale Strukturen weiter überlagert werden bis hin tatsächlich zum weißen Rauschen. Die Frage ist natürlich, ob das für einen Komponisten interessant ist zu tun. (00:49)

Sprecher:
Das wird die Zukunft zeigen. Schon jetzt betrachtet Platz alle seine seit 1989 komponierten Werke als Teile eines vielgestaltigen Organismus. Natur und moderne Wissenschaft spiegeln sich darin gleichermaßen wider: So wie dieser virtuelle Organismus natürlichen Wachstumsformen nachempfunden ist, so verdankt er seine Existenz doch zugleich künstlichen Mutationen und manipulativen Prozessen bis hin zur Generierung klanglicher Mischwesen. Dass Musik Ausdruck ihrer Zeit ist, wird im Schaffen von Robert HP Platz jedenfalls auf vielschichtige Weise deutlich.

Musik 11:
Robert HP Platz, strange charm, Klangforum Wien, Emilio Pomárico, Dirigent, Dokumentation – Wittener Tage für neue Kammermusik 1999, Track 3, 04:50-06:23 (mit den Worten „Das wird die Zukunft...“ einblenden, dann ab ca. 05:28 alleine und ab 06:20 ausblenden.

Ende