Robert HP Platz
Gerhard Richter Gehörgänge


Musik, so sagte Gerhard Richter einmal, sei für ihn wichtig. Auch bekomme er immer wieder Post von Musikern, die seine Arbeit schätzen. Er freue sich darüber: irgend etwas Musikalisches müssten seine Bilder also schon haben.
Wohl wahr: ich musste dabei gleich an Texte denken (von James Joyce zum Beispiel), die so musikalisch sind, daß ich mir als Komponist nicht anmaßen würde (selbst, wenn dies auf meinem Wege läge), sie “vertonen” zu wollen.
Kann man Bilder “vertonen”? Sind Richters Bilder so “narrativ”, daß ich ihnen Klänge mit auf die Leinwand zu schreiben wagte? Oder sind sie selbst Musik genug?
Ich liebe die Bilder von Richter, und so habe ich mir als Gedankenspiel einmal vorgestellt, in einem seiner abstrakten Bilder herumzuwandern. Und was für eine Wanderung das war! Kein Spaziergang... ein Abenteuer für Stunden, Nachwirkungen garantiert. Ich durchquerte ein Labyrinth von Bächen, Flüssen, sich gegenseitig durchkreuzenden Bahnen und Kanälen, durchstreifte ganze Wälder von großer Schönheit  -  und bei jeder Richtungsänderung sah alles wieder neu und anders aus (= klang alles neu und anders). Auch an einen großen Farbsee kam ich einmal, aber als ich mich wieder umwandte, erschien mir der Grund, auf dem ich die ganze Zeit gewandert war, wie ein Meer. Ein chaotisches und gleichzeitig von einer hohen Ordnung geprägtes Meer von Farben, Schlieren, Rinnsalen, Klängen. Der Grad der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Schichten war dermaßen hoch, daß ich aus dem Bild staunend heraustrat und mich fragte, wie der Maler diese hochkomplexe Polyphonie überhaupt umsetzen konnte mit nur zwei Armen.
Und verschwand in einem anderen seiner Bilder. War dies eine Photographie? Oder ein gemaltes Bild? Es sperrte sich gegen meinen Wanderversuch, hier gab es keine Offenheit der Entscheidung für oder gegen eine Wanderrichtung. Nur die meisterliche Perfektion eines Abbildes, ein (im Doppelsinn des Wortes) perfekter Kontrapunkt zu den abstrakten Bildern. Ich trat aus dem Bild wieder heraus, schaute noch einmal... und hörte.

Ich hörte diesen Kontrapunkt, diese beiden völlig verschiedenen Welten, die so taten, als wollten sie nichts miteinander zu tun haben. Und doch: gerade dieses Aussparen dessen, was das andere ist verband sie miteinander in einer wundersamen Balance. Ich hörte sie wie zwei Stimmen...
Und nun sitze ich vor Bildern, die... nein: ich taste mich hörend bereits in faszinierende Bildwelten hinein, die beide Stimmen zusammenführen: Abbild (Photographie) und das Aufbrechen des Abbildes in verwischte Farbebenen, so als sei eine andere, dynamische, eine malerische Realität in eine statische Ebene des photographischen Abbildes eingebrochen. Oder: so als würde das Abbild plötzlich vor meinen Augen weggezogen. Wie zwei sich kontrastierende musikalische Ebenen, die in verschiedenen Geschwindigkeiten ablaufen: die eine statisch ruhig, die andere in einem rasenden Tempo, das Einzelheiten zu einer Textur, einem Flirren verwischt.
3.12.1999 heißt ein solches Bild, das einen herbstlichen Wald oder Park mit Parkbank imaginiert (war das Photo bereits so herbstlich oder sind es nur die Farben der Übermalung?). Oder auch der winterliche Wald 21.12.1999  -  die beiden Bildebenen erinnern mich an russische Ikonen und die Okladen, die das gemalte Bild teilweise bedecken. Die “Oklade” dieses Bildes hier scheint wie ein Vordergrund... ich höre eine laut rasende Musik im Vordergrund und eine sanfte, ruhende Musik, die dahinter in den Pausen hörbar wird.
Sagte ich Vordergrund...? Ich trete zwischen die beiden Musiken  -  und höre einen Raum, rund um mich herum sind Klänge, Farben, Bewegung von Klängen und Farben, verschiedene Geschwindigkeiten dieser Bewegung. Es gibt hier keinen Vorder-, keinen Hintergrund. Es gibt eine Raum-Polyphonie, eine Polyphonie verschiedener Formen...
Diese Bilder lassen mich so schnell nicht wieder los.

Robert HP Platz (11/2002)