Robert HP Platz
Werkkommentar
Zeitstrahl (Quartett)


Unser musikalisches Denken bedient sich einiger Begriffe, die es  -  aus der Mathematik entlehnt  -  mit anderen Künsten teilt.

Die Prozeßform etwa wurde in der Literatur schon von E.A. Poe, später von Gertrude Stein, Raymond Roussell und anderen erörtert; die Werke der Kubisten, Abstrakten Expressionisten, ja fast aller Kunstströmungen seither bis in die jüngste Zeit könnten ohne den Begriff des Prozeß (als projezierte Zeit) kaum erfasst werden. Während aber theoretische Erörterungen solcher Art in der Literatur und Bildenden Kunst hinter das einzelne Werk zurücktreten, bleiben sie in der Musik oft im Vordergrund, seltsam abstrakt, dem Verständnis eher im Wege. Dabei entspringt zwar der Umgang mit Prozessen, mit der Gestaltung des Ablaufs der Zeit in der Musik  -  immerhin der zeitlichsten aller Künste  -  theoretischem Kalkül, doch stellt er für den Komponisten eine täglich zu machende praktische Erfahrung dar: Zeit ist nicht die vierte, sondern die erste Dimension aller Dinge  -  die Frage, ob etwas ist oder nicht ist, die Frage nach der puren Existenz eines Dinges also, ist die Frage nach seiner Zeit.

Die musikalischen Implikationen dieses Ansatzes sprengen den Rahmen dieser Zeilen; jede kompositorische Entscheidung stellt sich zu allererst der Frage nach dem WANN, auf allen Ebenen der Arbeit vom kleinsten Detail bis zum Entwurf der Großform. Wie dabei bisher Selbstverständliches zum Sonderfall (weil nur zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und sinnvoll) wird, habe ich das eine oder andere Mal gesprächsweise mit einem astronomischen Vergleich zu erklären versucht. So ist es falsch, zu sagen: Dort oben ist ein Stern. Vielleicht gibt es ihn ja schon lange nicht mehr, nur sein Licht ist immer noch zu uns unterwegs und  das Ende des Lichtstrahls rast durch den Raum auf uns zu. Und eine Stunde, bevor ich telephonisch um diesen Text gebeten werde, lese ich (sinnigerweise in der “ZEIT“: Nr 19 vom 1.5.87): "Innerhalb von Stunden steigerte der Stern seine Leuchtkraft millionenfach: So hell wie 30 Millionen Sonnen strahlte er, ehe eine gigantische Explosion seine äußere Hülle zerfetzte. Das geschah in grauer Vorzeit. Der Affenmensch von Java war zwar schon lange tot, doch unsere Vorfahren hatten noch einen weiten Weg zum Neandertaler vor sich, der etwa 50000 Jahre später auftauchte. Wahrscheinlich haben Erscheinungen am Himmel unseren Urahnen noch nichts bedeutet. Aber selbst wenn sie gezielt das Firmament beobachtet hätten, ihnen wäre nichts aufgefallen. Denn das gleissend grelle Licht der Explosion brauchte für seinen Weg etwa 170 000 Jahre. Am 23. Februar 1987 erreichte ein schwacher Schimmer endlich die Erde."

Zeitstrahl wurde  auf Anfrage von Irvine Arditti für das Arditti-Quartett geschrieben und ist diesen Musikern gewidmet.

Robert HP Platz